Teil 17 – Die Chroniken von Gearhaven
Der Himmel über Gearhaven leuchtete in einer warmen Palette von Purpur und Orange, während die Sonne langsam hinter den hohen Türmen der Stadt verschwand. Victoria stand auf einer der höchsten Plattformen, die Arme verschränkt und die Augen auf die langsam dunkler werdende Stadt gerichtet. Der gewohnte Rhythmus der dampfbetriebenen Maschinen und das Summen der magischen Energiequellen mischten sich zu einem Klangteppich, der Gearhaven Leben einhauchte.
Amelia trat lautlos neben sie, ein warmes Lächeln auf den Lippen. „Ist dir kalt da draußen ganz allein, Vic?“ fragte sie neckend.
Victoria seufzte und fuhr sich durch die Haare, ohne den Blick von der Stadt zu lösen. „Ich denke nur nach“, murmelte sie.
„Das sehe ich. Du siehst aus, als ob du Welten durchquerst – oder als ob du in der Vergangenheit schwelgst“, bemerkte Amelia und lehnte sich ans Geländer. „Erzähl mir davon. Du bist immer so verschlossen über dein früheres Leben.“
Victoria zögerte, doch schließlich nickte sie. „Weißt du, es ist nicht einfach. Ich habe Gearhaven mit jedem Stück meines Lebensblutes erbaut, aber davor… war ich jemand anderes. Manchmal frage ich mich, was geblieben wäre, wenn ich einen anderen Weg gewählt hätte.“
Flashback: Die Anfänge
„Ich bin in einer Bergarbeitersiedlung geboren, ganz weit weg von hier. Mein Vater war ein einfacher Minenarbeiter, und meine Mutter… Sie war eine unerschütterliche Frau, voller Hoffnung und Willenskraft, die fest daran glaubte, dass ich es einmal besser haben würde als sie.“
Amelia nickte verständnisvoll. „Das erklärt deinen unnachgiebigen Ehrgeiz.“
Victoria lächelte leicht. „Vielleicht. Aber es war kein leichtes Leben. Unser Zuhause war eine kleine, staubige Hütte, und der Himmel über uns war meistens vom Rauch der Maschinen getrübt. Die Leute in unserem Dorf sprachen oft von einer besseren Zukunft, aber für die meisten blieb es nur ein ferner Traum.“ Sie machte eine Pause, in der ihr Blick in die Ferne abschweifte. „Und dann, eines Tages, fand ich eine alte, verrostete Spieluhr. Sie war kaputt, aber ich habe sie Tag und Nacht studiert, bis ich endlich verstand, wie sie funktioniert.“
„Das war dein erster Versuch als Erfinderin, hm?“ Amelias Augen funkelten.
Victoria lachte. „Es war mein erster Erfolg und meine erste Besessenheit. Bald begann ich, alles auseinanderzunehmen, was mir in die Finger kam: alte Werkzeuge, defekte Messgeräte aus der Mine… Mein Vater hat sich halb totgelacht, wenn ich mal wieder mit einem Schraubenschlüssel an den zerlegten Teilen saß.“
Amelia legte ihre Hand sanft auf Victorias Schulter. „Er wäre so stolz auf dich, Victoria.“
„Ja… aber damals sahen es die Leute nicht so.“ Victoria schüttelte den Kopf. „Ich war sechzehn, als ich ein Stipendium für die Technische Akademie in der Stadt bekam. Die meisten anderen Schüler waren Söhne und Töchter wohlhabender Familien, die ihre erste Dampfmaschine wahrscheinlich in der Krippe als Spielzeug hatten. Für sie war ich nichts weiter als eine Außenseiterin, ein Mädchen vom Land, das besser in die Minen zurückkehren sollte.“
„Oh, ich wette, du hast ihnen allen gezeigt“, meinte Amelia schmunzelnd.
„Das habe ich.“ Victoria strahlte. „Ich habe jeden freien Moment in den Bibliotheken verbracht, jedes Handbuch, jede technische Skizze studiert und mich nie unterkriegen lassen. Dann kam Professor Miles, ein alter Ingenieur, der mich ermutigte, in seinem Labor zu arbeiten. Er sagte, ich hätte etwas, das seinen anderen Studenten fehlte – eine brennende Neugier und den Willen, alles zu hinterfragen.“
„Professor Miles… er muss dir viel beigebracht haben.“ Amelia hörte aufmerksam zu, während Victoria ihre Gedanken noch einmal sammelte.
„Ja, das hat er. Aber es gab auch eine dunkle Seite daran. Ich war so sehr auf meine Karriere fixiert, dass ich die Menschen um mich herum vergaß. Ich habe Freundschaften geopfert, Beziehungen vernachlässigt. Alles, um Gearhaven zu erbauen.“
Amelia sah sie eindringlich an. „Vielleicht hast du vieles aufgegeben, aber schau, was du erreicht hast! Diese Stadt ist ein Monument deiner Entschlossenheit.“
Ein unerwarteter Unterbrechung
Ein ohrenbetäubender Klang durchbrach plötzlich das Gespräch. In der Ferne ertönte das donnernde Stampfen schwerer Schritte, und ein Chor aus aufgeregten Stimmen schallte über den Platz. Amelia und Victoria drehten sich um und sahen die Menge, die sich auf dem zentralen Marktplatz sammelte.
„Da scheint etwas los zu sein“, stellte Amelia fest, ihre Augen funkelten vor Neugier. „Hoffentlich ist es nichts zu Ernstes… oder vielleicht doch?“
„Ein Teil von mir wünscht sich ein wenig Ruhe, ein anderer Teil kann die Abenteuerlust wohl nicht abschütteln,“ murmelte Victoria. Sie lächelte leicht und folgte Amelia die Treppen hinunter in Richtung des Getümmels.
Der Marktplatz und alte Bekannte
Am Marktplatz angekommen, entdeckten sie die Ursache des Tumults: eine große, dampfbetriebene Kutsche, flankiert von einer Abordnung ungewöhnlicher Figuren in glänzenden Uniformen. Vor der Kutsche stand niemand anderes als Lord Hastings, ein alter Bekannter aus Victorias Akademiezeiten – und einer ihrer schärfsten Rivalen.
„Victoria Hartmann“, rief Hastings mit einem herablassenden Lächeln. „Wer hätte gedacht, dass ich dich ausgerechnet hier treffen würde.“
„Hastings“, erwiderte Victoria trocken. „Was führt dich nach Gearhaven?“
„Oh, ich habe gehört, dass deine kleine Stadt an Ansehen gewinnt. Man könnte meinen, du hättest tatsächlich etwas Bedeutendes erreicht.“ Er musterte sie mit einem spöttischen Blick, bevor er fortfuhr. „Ich bin hier im Namen des Rats von Aetherhall. Unsere Gemeinschaft hat beschlossen, dass Gearhaven eine Bereicherung für das Kaiserreich sein könnte… unter entsprechender Führung.“
Victoria spürte, wie das alte Kribbeln von Widerstand in ihr aufstieg. „Gearhaven ist frei und unabhängig. Wir brauchen weder deine Gunst noch deinen Schutz.“
Hastings lächelte kalt. „Nun, wir werden sehen. Ich dachte, du wärst zumindest neugierig auf das Angebot. Es wäre doch schade, all das hier zu verlieren.“
Amelia schob sich vor Victoria und funkelte Hastings an. „Gearhaven hat keinen Platz für Leute, die denken, sie könnten andere unterjochen. Wir haben alles aus eigener Kraft aufgebaut und werden es verteidigen, wenn es sein muss.“
„Ach, Captain Blackwood“, sagte Hastings belustigt. „Ihr seid immer noch so impulsiv wie früher.“ Dann neigte er den Kopf und fügte hinzu: „Aber gut, ich werde mein Angebot überdenken. Gearhaven soll für den Moment seinen Frieden haben. Aber wir sehen uns wieder, Victoria.“
Mit einem letzten Lächeln stieg er in die Kutsche, die unter dem zischenden Dampf davonrollte.
Nachhall des Besuchs
Victoria und Amelia blieben still, während die Menschenmenge sich langsam auflöste und nur ein Gefühl von Unbehagen zurückblieb.
„Das wird noch Ärger geben, nicht wahr?“ fragte Amelia schließlich leise.
Victoria nickte, ihre Gedanken wirr vor Erinnerungen und neuen Sorgen. „Hastings gibt nie auf. Er sieht alles, was ich erreicht habe, als persönliche Herausforderung.“ Sie sah Amelia an, ihre Augen fest entschlossen. „Aber Gearhaven bleibt frei. Dafür werde ich kämpfen, bis zum letzten Atemzug.“
Amelia legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Und ich werde an deiner Seite sein, Vic. Für jede Herausforderung, die noch kommt.“
In diesem Moment schien Gearhaven in den Händen der beiden Frauen so stabil wie nie zuvor. Doch irgendwo, jenseits der Stadtmauern, bereitete sich der Rat von Aetherhall auf seinen nächsten Zug vor – eine Bedrohung, die bald das Herz von Gearhaven erschüttern würde.
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