Kernzeit
Kapitel 1: Der Verlust
David Lehmann war ein Mann, den man nie ohne seine quirlige achtjährige Tochter Mia antraf. Ihre enge Beziehung war für jedermann sichtbar und oft das Gesprächsthema der Nachbarn. Beide teilten die Liebe zu Comics, endlosen Spaziergängen im Park und ihrer allabendlichen Tradition, gemeinsam ein Buch zu lesen. Doch dieser Morgen war anders. Die Sonne schien zwar durch die Fenster ihres kleinen Hauses in der Seitenstraße, aber die Wärme, die sie sonst im Herzen trugen, war verblasst.
Mia lag auf der flauschigen gelben Couch im Wohnzimmer, die zu ihrem Thron geworden war. Ein überdimensionales Kuscheltier, ein lila Drache, bewachte sie. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Gesichtszüge blass. Die Ärzte nannten es eine seltene und aggressive Krankheit, aber für David war es ein Monster, das dabei war, ihm alles zu nehmen.
Stunden verwandelten sich in Tage, und David fühlte, wie die Schwerkraft der Verzweiflung schwer auf seinen Schultern lastete. Kein Arzt, keine Medizin konnte seiner kleinen Mia helfen. Als er eines Nachts in ihrem Krankenhauszimmer saß, unerbittlich den gleichmäßigen Takt des EKGs im Ohr, kam ein Mann zu ihm. Er sah aus wie ein Geschäftsreisender, makellos und selbstsicher, doch in seinen Augen lag etwas Unheimliches – etwas, das David sofort misstrauisch machte.
„Ich habe von Ihrem Unglück gehört“, begann der Mann, als sei er ein alter Bekannter. David war müde, zu müde um zu hinterfragen, wie dieser Fremde von Mias Zustand wusste. „Was wäre, wenn ich Ihnen sagen würde, dass es eine Möglichkeit gibt, das Schicksal zu ändern?“
„Wie meinen Sie das?“, fragte David skeptisch, aber irgendwo in tiefstem Inneren blitzte eine Hoffnung auf, winzig, aber unübersehbar. Der Mann setzte sich zu ihm und begann, mit wohlüberlegten, fast einstudierten Sätzen zu erklären.
Zeitsprünge. Eine Organisation, die es ermöglichen konnte, in die Vergangenheit zu reisen. Doch jeder Sprung war gefährlich. Die Rate des Überlebens verschwindend gering. Für die meisten bedeutete es den sicheren Tod. David lehnte sich zurück, sein Kopf schwirrte vor Unglauben und der absurden Kälte des Mannes. Doch was hatte er noch zu verlieren?
Als David schließlich alleine auf der Bank saß, spielte ein Sturm von Gedanken in seinem Kopf. Er schwankte zwischen dem Wahnsinn der Idee und dem brennenden Bedürfnis, seine Tochter zu retten. Er dachte an die Nächte, in denen er Mias Babyschritte gefilmt hatte; an den strahlenden Glanz in ihren Augen, wenn sie von fantastischen Orten erfuhr, die sie eines Tages besuchen wollte. Konnte er den Gedanken ertragen, dass diese Träume nie Realität werden würden?
Das Risiko zu sterben war real, doch die Möglichkeit, Mias Schicksal zu ändern, hielt ihn fest im Griff. Der Verlust von Mia würde sein Herz zerreißen und das einzige Heilmittel war eine Entscheidung, die seinen Verstand infrage stellte.
Die Nacht zog ihren Schleier über die Stadt. Die Lichter des Krankenhauses fühlten sich trostlos an, und Davids Herz suchte fieberhaft nach Antworten in der Dunkelheit. Die Gedanken an die Zukunft ohne Mia bildeten einen Abgrund, den er nicht zu ergründen wagte. Die Entscheidung pochte in seinem Geist, so drängend und unausweichlich wie das Ticken einer Uhr, die seine verbleibende Zeit herunterzählte.
David wusste, dass der Moment nahte, an dem er sich der Versuchung stellen musste, seinem Herz zu folgen und das Risiko bewusst einzugehen. Das Gewicht der Hoffnung und der schwindelerregende Drang, die Zeit zu manipulieren, um Mia zu retten, brachten seine Gedanken zu einem Ende. Er stand vor der Wahl – den sicheren Pfad der Akzeptanz oder den gefährlichen Sprung ins Ungewisse. Und so endete der Tag, mit Davids Herz, das verzweifelt zwischen Vernunft und Risiko schwebte, einem Vater, der fest entschlossen war, den Kampf um eine Zukunft zu führen, in der seine Tochter noch zu ihm gehörte.
Kapitel 2: Der Sprung in die Vergangenheit
Die Entscheidung fiel in einer sternenklaren Nacht, als die Stille in Davids Haus schwer auf ihm lastete wie ein Bleigewicht. Er stand im dunklen Flur, starrte auf das verblasste Familienfoto, das an der Wand hing, und spürte die bekannte Mischung aus Trauer und Hoffnung. Mia, seine Tochter, lächelte ihn von diesem Bild aus an, so lebendig, dass es sein Herz jedes Mal schmerzte. Im Geiste hörte er ihr Lachen, sah ihre Augen strahlen, und es war dieser verzweifelte Klang, der ihn letztlich dazu brachte, die einzige Entscheidung zu treffen, die ein Vater in seiner Lage treffen konnte: Er musste es versuchen.
David hatte sich mit Jonas, dem mysteriösen Vertreter der Organisation, in einem düsteren Lagerhaus am Stadtrand getroffen. Dort begann der Weg in die Vergangenheit. Jonas, dessen Gesicht Züge von Zeit und Entbehrung trug, klärte ihn über die Regeln der Zeitreise auf. Die Regeln waren simpel, aber unbarmherzig: Keine Kontakte knüpfen, nichts verändern, was niemanden nicht sollte. Und vor allem: Keine Erwartungen. Die Welt war ein fragiles Konstrukt, und jede Reise eine Bedrohung für diese fragilen Fäden, die alles zusammenhielten.
Jonas sprach mit der Ruhe eines Predigers. “David”, begann er, während das Summen der Maschinen im Hintergrund dröhnte. “Versteh, dass jede Aktion Reaktionen nach sich zieht. Es gibt keine Garantien.” Davids Stirn kräuselte sich in Frustration. “Ich weiß. Aber was ist, wenn ich es versuchen kann? Was, wenn eine kleine Änderung Mias Leben verändert?” Die Hoffnung schwang wie eine beschädigte Saite in seiner Stimme.
Jonas seufzte und umklammerte Davids Schulter. “Dann gehen wir beide ein Risiko ein. Aber ich verstehe deinen Antrieb. Gott weiß, das tue ich.” Es folgte eine Erläuterung der Gefahren: die Möglichkeit, in einer Zeitschleife gefangen zu werden, die Gefahr, unwissentlich eine Kette von Ereignissen auszulösen, die weitreichende katastrophale Folgen haben könnte. Zeitreisen waren kein Spielzeug, sondern ein zweischneidiges Schwert, das mit Respekt und Vorsicht behandelt werden musste.
Der Raum, der die Zeitmaschine beherbergte, war kalt und klinisch. Stahlwände reflektierten das Licht der Neonröhren, das Herzstück bestand aus einer komplexen Anordnung aus Röhren und elektrischen Spulen. Ein nahezu undenkbares Konstrukt, das von Außenstehenden als Fantasy abgestempelt werden würde. Und doch sah es das aus, was es war: Ein Portal durch Zeit und Raum.
David bestieg die Plattform, sein Herz trommelte in seiner Brust wie vor einem Sprung ins kalte Wasser. Die Maschinen begannen zu summen, ihre Vibrationen fuhren an seinem Körper entlang wie millionenfach verstärkte Stromschläge. Bebend schloss er die Augen, klammerte sich an den schwachen Funken Hoffnung und die Erinnerung an sein Ziel, seine Tochter.
Als das Summen seinen Höhepunkt erreichte, spürte David, wie sich seine Moleküle zu verflüssigen schienen, als ob die Zeit selbst ihn verschlang und ausspuckte. In einem unsichtbaren Sturm schoss er durch die Äonen, bis er schließlich auf festem Boden landete, erschöpft, aber in einem Stück.
Er öffnete die Augen und fand sich in einer vertrauten Szene wieder: sein eigenes altes Büro. Er war an dem Tag vier Jahre zuvor angekommen, an dem alles begann. Der Bildschirm seines Computers zeigte seine damalige Suchanfrage: “Symptome für seltene Krankheiten bei Kindern”. Bitterkeit übermannte ihn kurz.
Plötzlich ertönte ein vertrauter Gruß. David drehte sich um und sah Lukas, einen ehemaligen Kollegen, der ihn mit entwaffnender Freundlichkeit anlächelte. “David, lang nicht gesehen! Was machst du hier?” Lukass Stimme war warm, fühlte sich aber wie der Biss von Kälte an, die ihn an seine Mission erinnerte.
Er schnappte nach Luft, rang mit der Antwort. “Ich arbeite an einer Lösung, Lukas. Eine sehr persönliche Lösung.” Lukas’ Lächeln erschlaffte, und er erkannte den Ernst in Davids Augen. “Du solltest vorsichtig sein, Freund. Einige von uns haben es schon versucht und sind nie wieder zurückgekehrt wie vorher.” Davids Gedanke kreiste um die Möglichkeit, im Dunkeln verloren zu gehen.
Mit jedem Augenblick kehrten seine Erinnerungen zurück. Er wusste, welche Entscheidungen zu Mias Krankheit führten und was hätte anders verlaufen müssen. Das Wissen war wie ein Schmetterlingsnetz in einem Sturm. Eine falsche Bewegung könnte alles zerstören.
Er musste vorsichtig sein, doch das Gewicht der Verantwortung brannte in seinen Gliedern. Der Ausweg war schmal, wie eine Brücke aus schimmerndem Glas, und er musste jeden Schritt mit Bedacht setzen. Die Vergangenheit bot ihm eine einzige Chance, aber sie war ebenso ein Minenfeld aus Fehlern und Konsequenzen, das ihm die Luft zum Atmen nahm.
Als er auf die Uhr in seinem Büro blickte, wusste er, die Zeit war gekommen, die Grenzen dessen zu erproben, was unantastbar schien, und eine Reise anzutreten, die weitaus gefährlicher war, als alle Abenteuer, die er je gekannt hatte.
Kapitel 3: Die Rückschläge
David stand inmitten des kleinen, unscheinbaren Raumes, der ihm als Knotenpunkt seiner Zeitreisen diente. Die Neonlichter flackerten über seinem Kopf und warfen unheimliche Schatten auf die Wände. Wieder einmal fand er sich mit leeren Händen in der Gegenwart wieder. Sein Herz raste und seine Hände zitterten, als er versuchte, die Ereignisse seiner jüngsten Reise zu rekapitulieren. Doch trotz all der Mühen schienen seine Versuche, Mias Schicksal zu ändern, immer wieder ins Leere zu laufen.
Die erste Zeitreise hatte ihn einige Wochen zurückgeführt, in die Zeit vor Mias Diagnose, doch schon bald war klar geworden, dass seine bloße Anwesenheit in der Vergangenheit ein Geflecht ungewollter Konsequenzen nach sich zog. In einer Zeitlinie hatte er verhindert, dass Mia den Krankheitsauslöser überhaupt erblickte, nur um sie in einer anderen, noch schlimmeren Gefahr zu wissen. Jeder Eingriff war wie ein Schmetterlingsschlag, der Stürme an nicht vorhersehbaren Orten auslöste.
David trat gegen die Wände des Raumes, seine Frustration war spürbar. Zumindest hatte er durch die Reisen gelernt, dass Menschen, die sich wiederholt durch die Zeit bewegten, Gefahr liefen, im Nichts zu verschwinden. Diese Erkenntnis stammte von einem alten Bekannten, einem früheren Kollaborateur der Organisation, die David das Zeitreisen ermöglicht hatte. Der Bekannte, einst ein angesehener Wissenschaftler, hatte allmählich seine Substanz verloren, bis er schließlich nichts weiter als ein Flüstern in einem leerstehenden Gebäude war.
Diese schreckliche Entdeckung hätte David abschrecken müssen, doch stattdessen verstärkte sie nur seine Entschlossenheit. Er wusste, dass jeder Sprung ein Risiko darstellte, doch der Gedanke, dass Mia für immer verloren gehen könnte, war ein Dämon, der ihn jede Nacht heimsuchte.
Während David im Geiste um Klarheit rang, ereignete sich etwas Dramatisches. Ein Alarm ertönte in dem Raum – ein unheilvolles, dröhnendes Signal, das eine Kollision der Zeitlinien ankündigte. David kannte diese Gefahr, hatte man ihn doch gewarnt, dass das Überschneiden von mehreren Zeitreisen letztlich zu einem Bruch in der Realität führen konnte. Die Anomalien, die daraus resultierten, waren unberechenbar – manchmal bedeutete es das plötzliche Verschwinden von Objekten oder gar Menschen.
Ein grelles Licht erfüllte den Raum, und plötzlich fand sich David zwischen zwei Momenten gefangen, seine eigene Existenz war ein flüchtiger Wimpernschlag in der unendlichen Schleife der Zeit. Für einen Bruchteil einer Sekunde erlebte er die Geburt und den Tod des Universums. Und als sich die Wogen der Zeit beruhigten, war es, als hätte ihn eine unsichtbare Hand zurück in die rauen Arme der Realität gestoßen.
Der Vorfall weckte eine Mischung aus Angst und Entschlossenheit in David. Es war ihm klar, dass er etwas grundlegend falsch machte, und dass es bei weitem nicht nur um die Rettung seiner Tochter ging. Es gab größere Kräfte im Spiel. Kräfte, die er weder verstand noch kontrollieren konnte.
Doch dieser neue Schub an Motivation, genährt von verzweifelter Hoffnung und der Einsicht, dass seine Taten weitaus größere Auswirkungen hatten als ursprünglich angenommen, trieb ihn weiter voran. Er erzielte keine Fortschritte bei der Rettung seiner Tochter, und trotzdem wuchs seine Entschlossenheit mit jedem misslungenen Versuch.
Er nahm sich vor, die nächsten Schritte mit größerer Vorsicht zu planen. Es musste einen Weg geben, dieser verqueren Spirale zu entkommen, eine Möglichkeit, die Dinge zu ändern, ohne die Realität zu zerbrechen. Die Zeit drängte, nicht nur für Mia, sondern auch für ihn. Die Grenze zwischen den Zeitlinien wurde immer dünner, und der nächste Rückschlag könnte der letzte sein.
Mit dem Versprechen, nicht kampflos aufzugeben, zog David seine verbrannte Landkarte von der Wand, die voller handschriftlicher Notizen und Kritzeleien war. Sie war zerknittert und kaum noch lesbar, ein Werk verzweifelter Versuche und missglückter Planungen, aber trotz ihrer Mängel war sie sein Kompass durch das Labyrinth der Zeit.
Er wusste, dass er weitermachen musste. Für Mia. Und möglicherweise für sich selbst. Denn in einem Universum, in dem die Zeit manipuliert werden konnte, war auch Hoffnung eine Frage der Perspektive – und eine Sache der Zeit.
Kapitel 4: Eine letzte Chance
David starrte in den Spiegel, seine Gesichtszüge scharf gezeichnet durch das spärliche Licht, das den kleinen Raum erhellte. Dunkle Ringe umgaben seine Augen und die Erschöpfung ließ seine Schultern hängen. Der verzweifelte Wille, die Vergangenheit zu ändern, trieb ihn jedoch weiter an. Die zahllosen Rückschläge hatten ihn zwar fast in die Knie gezwungen, doch nun tat sich vielleicht eine neue Möglichkeit auf. Eine Möglichkeit, die er um jeden Preis nutzen musste.
Er war der Organisation für temporale Entwicklungen schon länger ein Dorn im Auge, aber es schien, dass sie ihn noch nicht ganz abgeschrieben hatten. David hatte eine neue Theorie entwickelt, die sich der konventionellen Logik des Zeitreisens entgegenstellte. Die Idee war riskant, ja geradezu waghalsig: Wenn es ihm gelänge, einen bestimmten Punkt in der Vergangenheit subtil zu manipulieren, könnte er vielleicht die laufenden Ereignisse zu seinen Gunsten beeinflussen, ohne dass die Realität unkontrollierbar aus den Fugen geraten würde.
David hatte die Nase voll von vorsichtigen Schritten. Er brauchte jetzt eine drastische Änderung – ein neuer Ansatz, der all seine bisherigen Fehlschläge vergessen machen könnte. Nachdem er die Theorie einem hochrangigen Mitglied der Organisation vorgestellt hatte, ging alles verblüffend schnell. Vielleicht war es der resignierte Blick, der den Mann überzeugt hatte, oder die Tatsache, dass die Organisation nicht als Versager dastehen wollte. Wie auch immer, er hatte nun Zugriff auf die Ressourcen, die er so dringend benötigte, um diesen waghalsigen Plan zu realisieren.
Die Vorbereitungen zur Reise waren komplizierter denn je. Jede kleinste Variable musste einkalkuliert werden, um die erwünschte minimale Änderung hervorzurufen. Wie ein Schachmeister, der an einem entscheidenden Zug arbeitete, überlegte David sorgsam, welche Pionen er bewegen musste, damit das Gesamtspiel eine neue Wendung nahm.
Während er sich vorbereitete, reflektierte David über die Konsequenzen, die aus dieser letzten Reise entstehen könnten. Würde er Mia wirklich retten können? Und wenn ja, welche Opfer müsste er dafür bringen? Mittlerweile war ihm klar, dass jede Reise ihre Tribute forderte. Doch heute schob er diese Gedanken beiseite. Heute zählte nur eines: Die Chance zu haben, die Dinge zu ändern, auch wenn das bedeutete, die letzte Reise seines Lebens zu machen.
Den Gedanken an ein Leben ohne Mia konnte David nicht ertragen. Ihr Lachen und die Leichtigkeit, mit der sie das Leben betrachtete, waren sein Anker gewesen, als seine Frau starb. Jetzt stand er hier, bereit für den finalen Sprung, und alles, was ihn trieb, war die Vorstellung, sie wieder gesund und glücklich zu sehen.
Der Abschied von der Gegenwart fiel ihm schwerer als erwartet. Er wusste, dass er die Menschen, die ihn unterstützten und liebten, möglicherweise nie wiedersehen würde. Ein Abschied von seinem Bruder brachte seine Fassade zum Bröckeln. Die beiden hatten nicht viel Zeit miteinander verbracht, doch der Bruder war ein haltender Fels in dieser dunklen Zeit gewesen. Als sie sich umarmten, flüsterte David: „Ich tue das für Mia. Und für uns alle.“ Die Worte blieben in der Luft hängen, während Tränen der Verzweiflung und Hoffnung gleichermaßen ihre Gesichter befeuchteten.
Schließlich war alles bereit. Der Zeitpunkt war gewählt, der Ort präzise berechnet. David trat vor das Portal – eine unscheinbare Tür in einem kalten, metallischen Raum, die bei genauer Betrachtung flimmerte und Wellen durch ihre Umgebung schickte. Einmal mehr fragte er sich, warum er nicht einfach aufgeben konnte. Doch dann spürte er diese wärmende Erinnerung an seine Tochter und wusste, dass er keine andere Wahl hatte.
Mit einem letzten tiefen Atemzug betrat David das Portal. Ein Gefühl, das er nicht gewohnt war, ergriff seinen Körper; eine seltsame Mischung aus Adrenalin und Übelkeit, das sich über ihn stülpte wie eine unbekannte Kraft. Die Luft knisterte, während die Welt um ihn herum aus den Angeln hob. Erinnerungen, Gedanken und Emotionen vermischten sich zu einem wirren Knoten.
Als sich das Portal schloss und die Dunkelheit ihn umfing, wusste David, dass dieser Moment sein Schicksal bestimmen würde. In einem atemberaubenden Augenblick sah er sich selbst an jenem Punkt, an dem alles begann. Alles, was er tun musste, war, den kleinen, fast unsichtbaren Ruck zu geben – jene subtile damalige Gegebenheit umzustoßen, die dazu geführt hatte, dass Mia überhaupt krank wurde.
Mit einem stillen Gebet um Erfolg und einem Herz voller Hoffnung griff er ein letztes Mal in den Strom der Zeit, das Gewicht der Welten auf seinen Schultern. Vor ihm öffnete sich der entscheidende Moment, und während David seine Hand ausstreckte, wusste er: Jetzt oder nie.
Kapitel 5: Der Preis der Zeit
David spürte, wie sich die Welt um ihn herum veränderte, während er aus dem Zeitstrudel heraustrat. Alles war zugleich vertraut und fremd – als ob er durch den Nebel seiner eigenen Erinnerungen wandelte. Die Farben schienen gedämpft, die Geräusche gedämpft. Es war die Gegenwart, und doch nicht mehr die Gegenwart, die er verlassen hatte.
Die Rückkehr verlief nicht ohne Komplikationen. Während der letzten Reise hatte David eine Begegnung mit sich selbst gehabt – nicht dem jetzigen, sondern einem erdenklichen zukünftigen Ich. Ein kurzer Blick, ein Schimmer in der Zeit, der ihn mit einer tiefen Unruhe erfüllte. Was hatte er verändert? Welche Konsequenzen würden folgen? Diese bangen Gedanken begleiteten ihn, als er in die Gegenwart trat.
Sein erster Gedanke war Mia. Seine kostbare Tochter, die er mit einem fast übernatürlichen Gefühl der Dringlichkeit zu retten versucht hatte. In einem Anflug von Panik verließ er das verlassene Lagerhaus, das als Zeitportal gedient hatte, und rannte so schnell er konnte nach Hause. Seine Schritte waren schwer, und sein Herz pochte in seiner Brust wie ein Trommelschlag, der den unvermeidlichen Showdown ankündigte.
Als er die Haustür erreichte, hielt er inne. Angst und Hoffnung rangen in ihm, als er den Türknauf drehte und vorsichtig eintrat. Der Anblick, der sich ihm bot, raubte ihm fast den Atem. Mia saß auf dem Sofa, vertieft in ein Buch, ihr Gesicht erhellt vom warmen Schein der Nachmittagssonne, die durch das Fenster fiel. Sie war am Leben. Und gesund.
David sank auf die Knie, unfähig, die Erleichterung und Dankbarkeit, die in ihm hochquoll, zu verbergen. Mia, überrascht von seiner ungewöhnlichen Rückkehr, legte das Buch zur Seite und betrachtete ihn stirnrunzelnd. “Papa, alles in Ordnung?” fragte sie mit einer kindlichen Neugierde, die er schmerzlich vermisst hatte.
„Ja… Ja, alles ist in Ordnung“, antwortete David mit gebrochener Stimme, während er sie in eine innige Umarmung zog. Er wollte diesen Moment nie enden lassen, nie wieder die Gefahr eingehen, sie zu verlieren. Doch in der Hinterhand seines Geistes nagte ein dunkler Gedanke: Welchen Preis hatte er wirklich bezahlt?
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. In den folgenden Tagen begann David, die Auswirkungen seiner Handlungen zu spüren. Kleine Details, die nicht mehr übereinstimmten – Menschen, die er nicht mehr an ihrem gewohnten Ort fand, Gespräche, die anders geführt wurden, Erinnerungen, die sich anders anfühlten. Es waren keine großen Änderungen, aber genug, um ihn zu verunsichern. Er fühlte sich wie in einem Theaterstück, dessen Skript jemand heimlich verändert hatte.
Dann kam der Tag, an dem alles zusammenbrach. Eine Persönlichkeitsdecke überlagerte die Realität, während er in der Stadt nach Hinweisen auf die frühen Anzeichen dieser Veränderungen suchte. Doch was er fand, war erschreckender als in seinen kühnsten Alpträumen: Seine eigene Existenz verblasste. David wurde von den Menschen ignoriert, von den Dingen, die ihn einst umgaben, nicht mehr erkannt. Die Zeit selbst begann, ihn zu tilgen – einen Mann, der es wagte, gegen ihre Gesetze zu verstoßen.
In dieser existenziellen Verzweiflung erreichte er die Organisation, die ihm die Zeitreise ermöglicht hatte. Doch dort fand er nur Ruinen, als ob niemand jemals dort gewesen wäre. Die Realität bröckelte, die Zeitlinien verzerrten sich, und die Prinzipien, mit denen er einst vertraut war, zerbrachen.
Inmitten dieser Verwirrung, dieser bedrohlichen Auslöschung, kam die letzte Erkenntnis. In den raren Momenten, in denen er sich noch der Realität bewusst war, erkannte David die bittere Wahrheit: Sein Opfer hatte Mia gerettet, aber führte zu einem Paradoxon, das ihren Vater allmählich aus Jordanien tilgte.
Diese Erkenntnis war bittersüß. Der ethische Graben, den er überquert hatte, um seine Tochter zu retten, führte ihn in ein Rätsel, das nie wirklich gelöst werden konnte – die ethische Frage der Zeitmanipulation, die der Menschheit seit Anbeginn blinde Flecken beschert hatte. War es richtig, eine Zukunft zu ändern, ohne zu wissen, was die vollständigen Konsequenzen sein würden? War das Risiko den Preis wert?
Und während David in die Vergessenheit driftete, umarmte er innerlich die Zufriedenheit, dass Mia lebte. Sein Opfer war nicht umsonst, sein Erbe in ihr weiterlebend, das einzige, was ihm letztlich Bedeutung verlieh.
Die Lücke, die Zeit hinterließ, war längst einer neuen Zukunft gewichen. Und so endete Davids Geschichte mit dem, was sie immer hätte sein sollen: einer offenen Tür zu unendlichen Möglichkeiten und der unaufhörlichen Suche nach dem, was wichtig war – Liebe, Familie und die unergründliche Tiefe der menschlichen Erfahrung in einem Universum ohne Ende.