Zeitreisende Schatten Teil 16
Als Clara und die anderen den letzten Schritt in das Portal setzten, fühlte es sich an, als würde die Realität unter ihren Füßen verschwimmen. Ein durchdringendes Summen vibrierte in ihren Knochen, während die Welt um sie herum in einen formlosen Strudel aus Licht und Schatten zerfiel. Der Boden unter ihnen war verschwunden, und sie schwebten, gefangen in einer unendlichen Leere, in der weder Zeit noch Raum zu existieren schien. Die Dunkelheit war überwältigend, wie eine lebendige Masse, die ihre Gedanken und Erinnerungen umschlang, und Clara kämpfte dagegen an, sich selbst zu verlieren.
„Wo… wo sind wir?“, stammelte Samuel, seine Stimme klang schwach und fern in der endlosen Finsternis.
Plötzlich tauchte ein greller Lichtblitz am Horizont auf, als wäre ein Stern explodiert. Die Dunkelheit wich, und die Gruppe wurde in einen riesigen, kuppelförmigen Raum geschleudert, der von einem unheimlichen roten Glühen durchdrungen war. Die Luft schien zu vibrieren, erfüllt von einer Energie, die sie förmlich am Boden festhielt.
Die Halle, in die sie gefallen waren, wirkte unnatürlich. Der Boden bestand aus einem glatten, schwarzen Material, das das rötliche Licht spiegelte. Über ihnen spannten sich gewaltige, säulenartige Strukturen, die aussahen, als seien sie aus purem Schatten geformt. Sie ragten in die Höhe, bis sie sich in einem schwindelerregenden Bogen trafen und die gewaltige Kuppel bildeten, die den Raum überspannte.
„Das… das ist unmöglich“, flüsterte Nyx und schaute sich ungläubig um. „Woher kommt dieses Licht?“
Das Herz der Zeit
„Das Licht“, sagte eine Stimme aus dem Nichts, „kommt von der Zeit selbst.“
Clara fuhr herum. Aus den Schatten, die die Ränder des Raumes umspielten, trat der Wächter. Doch diesmal war er anders. Er schien mehr als eine bloße Erscheinung zu sein – sein Körper war klar definiert, sein Gesicht hatte Form angenommen, als ob die Dimension ihn stärker gemacht hätte. Seine Augen glühten mit einem seltsamen, unnatürlichen Licht.
„Ihr steht vor dem Herz des Risses“, erklärte er mit einer Stimme, die tief und eindringlich klang. „Dies ist der Knotenpunkt, an dem die Zeitlinien zusammentreffen. Jedes Ereignis, jeder Moment, den ihr je erlebt habt – sie alle führen hierher.“
Die Gruppe starrte auf das Zentrum der Halle. Dort, wo die Säulen am höchsten waren, schwebte eine massive, pulsierende Kugel aus Licht, umgeben von schattigen Strömen, die in sie hineinzufließen schienen. Das Licht flackerte und pulsierte im Rhythmus eines unsichtbaren Herzschlags.
Clara trat näher, das Fragment in ihrer Hand glühte sanft. „Und was bedeutet das? Warum sind wir hier?“
Der Wächter trat einen Schritt vor, seine Augen fixierten das Fragment in ihrer Hand. „Ihr habt einen Riss in der Zeit geöffnet. Einen Riss, der nicht mehr geschlossen werden kann… außer durch ein Opfer.“
Das Opfer der Zeit
„Ein Opfer?“, fragte Samuel, der vor Schreck einen Schritt zurückwich. „Was meinst du damit?“
Der Wächter hob eine Hand. „Es gibt immer einen Preis, wenn man in die Zeit eingreift. Ein unbedachtes Handeln, eine falsche Entscheidung – sie hinterlassen Spuren, die nicht einfach zu korrigieren sind. Um den Riss zu heilen und das Gefüge der Zeit wiederherzustellen, müsst ihr etwas von euch selbst opfern.“
Die Gruppe war still. Jeder verstand, dass der Wächter nicht von einem physischen Opfer sprach. Es war etwas Tieferes, etwas, das ihre Seelen berühren würde.
„Aber was genau verlangt dieses Opfer?“, fragte Nyx, ihre Stimme brüchig vor Anspannung.
„Einer von euch muss einen Teil seiner Vergangenheit aufgeben. Eine Erinnerung, die entscheidend für euer Leben ist. Etwas, das euch geformt hat. Diese Erinnerung wird aus der Zeit gelöscht – als wäre sie niemals geschehen.“
Clara fühlte, wie ihre Kehle trocken wurde. Ihre Hände umklammerten das glühende Fragment fester. Sie dachte an ihre Vergangenheit, an die Entscheidungen, die sie getroffen hatte, und an die Fehler, die sie gemacht hatte. Welche dieser Erinnerungen war sie bereit zu opfern?
„Und was passiert, wenn wir uns weigern?“, fragte Samuel.
Der Wächter sah ihn mit finsterer Miene an. „Dann wird der Riss weiterwachsen. Die Zeit selbst wird zerfallen. Alles, was ihr je gekannt habt, wird in Chaos stürzen.“
Die Entscheidung
Clara starrte in das pulsierende Herz des Risses. Sie wusste, dass sie diese Entscheidung nicht auf die leichte Schulter nehmen durfte. Sie hatte mehr als jeder andere den Verlauf der Ereignisse beeinflusst, die sie hierher geführt hatten. Aber konnte sie wirklich so etwas von ihren Freunden verlangen? Dass einer von ihnen das wichtigste Stück ihrer Vergangenheit aufgab?
„Es muss jemand tun“, flüsterte sie, ihre Stimme zitterte.
Nyx trat näher. „Es darf nicht nur an dir hängen, Clara. Wir alle sind Teil dieser Geschichte. Jeder von uns hat eine Verantwortung.“
Samuel trat vor. „Aber nicht jeder von uns hat gleich viel zu verlieren. Wer weiß, welche Auswirkungen das Opfer haben wird? Es könnte alles verändern.“
„Genau das ist der Punkt“, sagte der Wächter und sah jeden von ihnen durchdringend an. „Das Opfer wird nicht nur eure persönliche Geschichte beeinflussen. Es wird Wellen durch die Zeit senden, die alles und jeden berühren könnten.“
Die Gruppe stand im stillen Nachdenken. Jeder verstand, was auf dem Spiel stand. Das Opfer würde die Realität verändern – möglicherweise für immer. Aber wer war bereit, den höchsten Preis zu zahlen?
Die Spannung wuchs, als das pulsierende Licht des Herzens des Risses schneller flackerte, als ob es die Zeit selbst drängte, eine Entscheidung zu treffen.
Clara wusste, dass der Moment der Wahrheit gekommen war.